Dienstag, 29. Oktober 2013
Film- und Theaterschaffende in Gabun: Drei kreative Köpfe im Gespräch
(Im Sommer 2013 reiste ich mit meiner Familie in das zentralafrikanische Gabun, die Heimat meiner Mutter. Selbst Bühnenmensch, hatte ich ein großes Interesse daran herauszufinden, wie in diesem Land KünstlerInnen arbeiten und leben. Drei von ihnen durfte ich persönlich sprechen.)

Die Geschichte, wie ich zu meinem ersten – eigentlich zu jedem – Interview mit einer gabunischen Künstlerin komme, ist so klischeehaft „afrikanisch“, dass sie mir keiner glauben wird. Und doch ist sie wahr:
Eines Morgens – es ist kurz nach sieben Uhr und meine Familie und ich befinden uns in den hektischen Vorbereitungen eines Wochenend-Trips auf die schöne Halbinsel Pointe Denis – schneit eine jener prächtig gekleideten Damen herein, die mir hier regelmäßig als Tanten vorgestellt werden. Nach der Begrüßung fällt der Verwandten, bei der wir die Ferien verbringen, ein, dass die Tochter besagter Tante doch, wie ich, Künstlerin und ich selbst schließlich unter anderem vor Ort sei, um mit Leuten „meines Milieus“ in Kontakt zu treten. Worauf die neugewonnene Tante beschließt, ihre Tochter sofort anzurufen. Ich wiederhole: Es ist kurz nach sieben Uhr. Doch das schreckt dieses Energiebündel, das gerade erst von der Frühmesse kommt, nicht im geringsten. So ist es an mir, mich verdattert für die frühe Störung zu entschuldigen. Die so rüde Geweckte verzeiht es mir, sobald die Verwandtschaftsverhältnisse geklärt sind, und so sitze ich fünf Tage später im Schneideraum des IGIS: Institut Gabonais de l’Image et du Son – also des nationalen Filminstituts. Dies ist die erste Adresse, an die sich gabunische Filmemacher wenden, um Unterstützung, Material und finanzielle Mittel anzufragen. Da in diesem Land selbst mit einer offiziellen Zusage noch nicht gesichert ist, dass jemand die benötigte Unterstützung rechtzeitig bekommt, gibt es auch nicht wenige Independent-Filmer, die auf eigene Faust mit der Kamera losziehen. „Doch immer mehr von denen arbeiten mit uns zusammen“, stellt meine neu entdeckte Cousine Jeanne klar.
Sie selbst ist als freischaffende Cutterin am Hause angestellt, hat ihre Ausbildung in Nantes/Frankreich absolviert und in der Vergangenheit in erster Linie Dokumentarfilme gedreht. Zur Zeit sitzt sie an einer großen Arbeit über die gabunische Musikszene, die schon vor Jahren abgedreht worden war. Doch in der Zwischenzeit gab es immer wieder Probleme mit dem Material, Bilder gingen verloren, Stromausfälle verzögerten die Fertigstellung... Mittlerweile sind einige der für den Film interviewten Musiker bereits verstorben.
„Für die Regisseure ist es besonders hart“, erklärt Jeanne, „manche werden 50, 60 Jahre alt, ohne je einen Film fertigstellen zu können. Ich als Technikerin dagegen, finde immer Arbeit. Die Leute denken dann, man habe es über Beziehungen geschafft – gerade mit einem Nachnamen wie dem meinen“ (ihre Mutter bekleidet ein politisches Amt), „aber ich muss mich ganz allein abstrampeln. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mir den Respekt der alten Hasen im Institut erarbeitet hatte, aber sobald sie gesehen haben, dass ich wirklich etwas kann, war alles in Ordnung.
Das gabunische Kino ist noch auf der Suche nach sich selbst,“ fährt sie fort. „Seit einigen Jahren kommen in den Filmen auch Themen vor, die früher tabu gewesen wären, wie z.B. sexueller Missbrauch in der Familie oder die immer noch häufigen Ritualmorde an Kindern. (Anm.: Für manche Rituale, die zu Macht und Reichtum verhelfen sollen, werden immer wieder Kinder entführt, deren grausam verstümmelte Leichen dann Tage später am Straßenrand liegen.) Dank des Internets werden solche Themen in der Öffentlichkeit immer mehr diskutiert, und die Filmemacher reagieren darauf.“
Zum Glück interessiere sich das Publikum sehr für den einheimischen Film, wobei es für die „leichte Kost“ – hier wie überall auf der Welt – wesentlich einfacher sei, sich durchzusetzen, als für inhaltlich anspruchsvollere Filme. Daher haben Produktionen aus „Nolliwood“, wie die nigerianische Filmindustrie genannt wird, wesentlich größeren Zulauf als einheimische Filme.
In dem Filmabschnitt, den meine Cousine gerade bearbeitet, bemerkt allerdings die Musikerin Annie-Flore Batchiellilys: „Die Gabuner ‚konsumieren’ ihre eigenen Künstler heute mehr als noch vor 10, 15 Jahren.“
„Was uns hier fehlt“, erklärt Jeanne, „ist eine anständige Ausbildung. Einmal im Jahr kommen zwar französische Ausbilder aus Frankreich ins Institut, sodass hiesige Filmemacher sich in Lichtdesign, Drehbuch und anderen wichtigen Bereichen weiterbilden können. Doch für eine fundierte Ausbildung müssen junge Künstler nach wie vor ins Ausland gehen.“


Immerhin: Langsam findet der gabunische Film auch internationale Beachtung. Diesen Sommer wurde auf dem Filmfest Ecran Noir in Yaoundé „La Clé“ von Olivier Dissouva als bester Film und Tony Me-Birinde als bester Darsteller in „Terre et Fils“ (Regie: Fernand Lepoko) ausgezeichnet. „Ich selbst würde auch gerne einmal einen eigenen Film drehen“, seufzt meine Cousine, „ich schreibe sehr viel – aber da ich die meiste Zeit damit beschäftigt bin, die Filme anderer zu schneiden, um Geld zu verdienen, komme ich nicht dazu.“ Auch dies ein Problem, das sie mit Künstlern auf der ganzen Welt teilt.
Zum Abschluss gibt sie mir noch die Nummer von Michel Ndaot, einem DER beiden großen gabunischen Theatermänner. Und schon habe ich meinen zweiten Interview-Termin.
Michel Ndaot gelingt es seit 1995, die Theatertruppe EYENO am Leben zu erhalten. „Eyeno“ bedeutet auf Miéné „Spiegel“. Als junger Mensch sah er sich oft Stücke im Centre Culturel Francais (CCF) an, spielte dann in gabunischen Fernsehformaten, besuchte in Libreville die Kunsthochschule ENAM (École Nationale d’Art et de Manufacture) und ließ sich 1998 in La Rochelle (Frankreich) im Bereich Straßentheater weiterbilden. Heute nimmt er an der ENAM die Abschlussprüfungen der Schauspieler ab und rekrutiert dort auch die Mitglieder seiner eigenen Theatertruppe, in der zusätzlich Laien aus den Schauspielkursen mitwirken, die er an verschiedenen Gymnasien veranstaltet.
„Wenn man gabunisches Theater machen will“, eröffnet Michel das Gespräch, „steht man verschiedenen Schwierigkeiten gegenüber. Zunächst einmal gibt es sehr wenige gabunische Autoren, die für das Theater schreiben, außer Ludovic Obiang und Laurent Orondo. Daher sind Regisseure oft gezwungen, Romane für die Bühne zu adaptieren, was ich selbst in der Vergangenheit mit „Histoire d’Awu“ von Joséphine Mints und „Les Matitis“ von Freddie Ndong-Ombeng gemacht habe.
Das zweite Problem ist, dass die Politik sich nicht genug für unser Theater einsetzt. Es gibt kein Nationaltheater, kein zentrales staatliches Gebäude, in dem einheimische Truppen sich präsentieren könnten. Um zu spielen, müssen wir zu hohen Preisen Säle mieten. Von staatlicher Seite werden eher Truppen aus dem Senegal eingeladen, deren Produktionen besser ausgestattet sind und die somit bereits Erfolg hatten, als dass unsere eigenen Ensembles gefördert und befähigt würden, ein Stück mehr als dreimal zu spielen.“
An diesen Gegebenheiten krankt das gabunische Theater seit den 70er-Jahren. Bis dahin war Vincent de Paul-Nyonda, der „Vater des gabunischen Theaters“, der selbst über 30 Stücke geschrieben hatte, Kultusminister gewesen. Er hatte ein nationales Theater aufgebaut, das sich langsam auflöste, nachdem er seinen Posten verloren hatte. In Gabun sind kulturelle (und leider auch soziale) Institutionen oft existenziell abhängig von ihren Gründern, ohne deren Beziehungen die Mittel und somit die Strukturen wegfallen, welche ein Theater oder z.B. ein Jugendprojekt am Leben erhalten.
Michel Ndaots eigene Produktion „Les Matitis“ konnte nur in Zusammenarbeit mit dem „Théâtre de l’Utopie“ in La Rochelle entstehen. Die französischen Kollegen waren es auch, die Spieltermine in Kanada, Frankreich und der Schweiz ermöglichten. Sogar, um in zentralafrikanischen Nachbarländern auftreten zu können, musste sich die Truppe Hilfe vom CCF holen.
„Aufgrund dieser Umstände“, fährt Michel fort, „ist unser Theater selbst im nahen Ausland so gut wie nicht präsent. Auch das FITEGA (Festival International du Théâtre Gabonais), das seit 10 Jahren in Libreville stattfindet, hat daran wenig ändern können.
Hinzu kommt, dass unser Publikum wenig mit dem theatralen Zeichensystem vertraut ist. Bei 50 verschiedenen Ethnien, die alle ihre eigenen kulturellen Traditionen haben, hat sich kein einheitliches traditionelles Theater herausbilden können. Wer überall erfolgreich ist, sind komödiantische Alleinunterhalter. Mittlerweile denken viele Leute, das sei Theater.“
Wenn dann ein Michel Ndaot in einem Stück einen Mann mit seiner verstorbenen Ehefrau die Vergangenheit Revue passieren und die Schauspielerin niemals die Füße auf den Boden setzen lässt, um ihren Status als Geist deutlich zu machen, rufen die Zuschauer den Darstellern ungeniert zu, sie sollten die Bühne verlassen, wenn sie schon nicht lustig seien. „Quitte là!“ – „Verschwinde!“, schalle es regelmäßig aus dem Saal, wenn das Publikum nicht durch eine Ankündigung darauf aufmerksam gemacht werde, dass die Schauspieler sich in mühevoller Arbeit auf diesen Abend vorbereitet und ein Minimum an Respekt verdient hätten. Diese Art „Briefing“ macht sich durchaus bezahlt: Die Leute äußern sich in der Folge zwar immer noch spontan während der Aufführung, doch beziehen sich ihre Zwischenrufe auf die Handlung: Es ist dann eine aktive Teilnahme und keine Ablehnung der Vorstellung als solche. Gegen diese Lebendigkeit hätte ich in unserem wohlerzogenen Europa, in dem man als Schauspieler oft bis zum bang erwarteten Applaus nicht die geringste Ahnung hat, wie das Stück bei den Zuschauern ankommt und wie man seine Dynamik gegebenenfalls korrigieren könnte, hin und wieder auch nichts.
Am ehesten, erklärt Michel, bekäme seine Truppe Spieltermine bei ausländischen Unternehmen wie Ölfirmen, die Vorstellungen für ihre Mitarbeiter buchten. Doch auch so komme eine Inszenierung selten auf mehr als fünf Vorstellungen – nach wochenlanger Probenarbeit eine eher deprimierende Aussicht.
So hat sich in Gabun die absurde Situation etabliert, dass die meisten Absolventen der ENAM gleich nach ihrer Ausbildung als Leiter von Theater-AGs an Schulen ins Inland verschickt werden und nie eine professionelle Bühne betreten. „Allerdings beobachte ich auch“, bemerkt Michel, „dass die Absolventen immer schlechter werden. In ihren Abschlusspräsentationen stellen sie z.B. traditionelle Rituale oder Alltagssituationen eins zu eins nach, erzählen aber weder eine Geschichte, noch erwecken sie eine eigene Figur zum Leben. Offenbar werden ihre Phantasie und Kreativität in der Ausbildung nicht gefördert. Und da frage ich: Von was für Leuten werden unsere Schauspieler unterrichtet? Und was sollen sie selbst der nächsten Generation weitergeben? Es ist ein Teufelskreis.“
Er selbst hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur den künstlerischen Nachwuchs, sondern auch die „Zuschauer von morgen“ in seinen Workshops zu erziehen. Obwohl diese ihm den Broterwerb sichern, hat er in 20 Jahren seine eigene Inszenierungsarbeit trotz aller Widrigkeiten nicht aufgegeben. Dabei wirkt er weder verbittert noch müde, was ich sehr

Links: Michel Ndaot. Rechts: Imunga Ivanga.
bewundere. Gleichzeitig kann ich verstehen, dass junge Schauspielschulabsolventen angesichts der allgemeinen, desolaten Lage des gabunischen Theaters, sich mit der relativen Sicherheit des Staatsdienstes zufrieden geben. Es ist ein Unterschied, ob man in Europa um ein Engagement selbst an einem kleinen Theater kämpft – oder ob man in einem Land Schauspieler ist, in dem es für den eigenen Beruf so gut wie keine Infrastruktur gibt und man obendrein mit der grundsätzlichen Ablehnung durch das Publikum rechnen muss.
Diese Einwände lässt Imunga Ivanga, mein nächster Gesprächspartner und seines Zeichens Leiter des IGIS, allerdings nicht so leicht gelten. „Wer Künstler wird, muss damit rechnen zu hungern“, stellt er bei meinem zweiten Besuch des Instituts klar. „Wer nicht damit zurechtkommt, dass es zehn Jahre dauern kann, bevor man irgendeine Anerkennung für seine Arbeit bekommt, hat den falschen Beruf gewählt. Dafür kann man nicht schon wieder den Staat verantwortlich machen. Natürlich sollte der sich mehr bemühen, eine vernünftige Infrastruktur zu schaffen, damit „Kultur“ sich nicht in alle Ewigkeit auf traditionelle Tänze und Gesänge beschränkt. Doch dies alles hat nichts mit meiner eigenen Entscheidung zu tun, Künstler zu werden und dafür zu kämpfen.“
Imunga selbst studierte Literatur in Libreville, bevor er nach Paris an die FEMIS wechselte und sich dort in Filmregie und Drehbuchschreiben weiterbildete. Diese Ausbildung bezeichnet er als sehr praktisch orientiert, unter anderem lernte er bei Jean-Claude Carrière. In der Folge drehte er mehrere Dokumentarfilme und schrieb Filmkritiken, bevor er mit „Dôlé“ (Miéné für „Geld“) seinen ersten Spielfilm schuf – und prompt mehrere Preise bei europäischen Festivals einheimste. Seit er 2006 die Leitung des IGIS übernahm, ist er überwiegend als Produzent tätig und dreht nur noch wenig selbst.
Auf meine Frage, ob er lieber Dokumentar- oder Spielfilme mache, antwortet er, die Dokumentation sei einfacher zu bewältigen, doch hänge die Form für ihn immer vom Thema ab. Ich darf mir auf seinem Laptop den Trailer zu einem Trickfilm ansehen, den das IGIS momentan mit einer amerikanischen Produktionsfirma plant. Darin geht es um einen Heranwachsenden, der den Wald seiner Heimat gegen die Ausbeutung durch große Konzerne verteidigt. Die Bilder sind sehr schön, in erdigen Farben gehalten; durch phantastisch anmutende, dennoch unverkennbar tropische Landschaften turnen grazile, energiegeladene Figuren. Auch das Thema Umwelt, das für die Gabuner aufgrund der üppigen Bewaldung ihres Landes noch kaum Dringlichkeit besitzt, wird also zumindest schon künstlerisch bearbeitet und der nächsten Generation bewusst gemacht.
Viel mehr gabunische Filme für Kinder scheint es nicht zu geben. Vor einigen Jahren, sagt Imunga, habe es eine Zeichentrickserie gegeben, mehr nicht. Auch hier ist die Konkurrenz aus dem Ausland geradezu übermächtig.
Unser Gespräch ist nicht lang, der Leiter des nationalen Filminstituts ist natürlich ein viel beschäftigter Mann und konnte mich gerade eben zwischen zwei Termine quetschen. Doch diese Zeit hat er sich immerhin genommen und ich bin recht zufrieden, als ich ihn abschließend um ein Foto bitte. „So?“ fragt er stirnrunzelnd, „im schwarzen Anzug?“
Wer Imunga Ivanga googelt, findet von ihm meist Bilder in zwanglosen, farbenfrohen Hemden. Damit auf dem Bild zumindest irgendeine Verbindung zwischen ihm und der Kunst sichtbar wird und er nicht wie ein Banker aussieht, stellt er sich neben das Gemälde, das in seinem Bureau hängt. Der Kreative und der Geschäftsmann – hier wie anderswo kommen offensichtlich jene am besten zurecht, welche diese beiden Rollen in sich vereinen.

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